Räuschling – Zürichsee im Glas

Räuschling – Zürichsee im Glas

Der Räuschling ist wohl die spannendste alteingesessene Weißweinsorte der Deutschschweiz. Am Zürichsee erlebt sie gerade eine kleine Renaissance, über die ich 2023 für das TRINK Magazine den folgenden Artikel schrieb.

Bekennender Räuschling-Fan bin seit dem 7. März 2015. Damals war ich einer Einladung des Mémoire des Vins Suisses nach Zürich gefolgt und erlebte am Weingut Schwarzenbach in Meilen am Zürichsee eine eindrucksvolle Räuschling-Vertikale, die bis zum Jahrgang 1935 zurück reichte. Seither probiere ich jeden Räuschling, den ich in die Finger bekomme und bin von der lebhaften Säure, der feinen Zitrusaromatik und dem Reifepotenzial dieser Rarität immer wieder fasziniert.

Vom Rauschen im Wind

Als ich zum ersten Mal von einer Rebsorte namens Räuschling hörte, dachte ich natürlich spontan an den „Rausch“, der sich nach ausgiebigem Weinkonsum früher oder später zwangsläufig einstellt. Doch tatsächlich hat der Räuschling etymologisch überhaupt nichts mit dem Rausch zu tun. Sein Name soll sich stattdessen vom Blätterrauschen im Wind ableiten. Die Blätter der Räuschlingrebe sind nämlich außergewöhnlich robust, behaart und dick, weshalb sie deutlich lauter rauschen als andere. Eine alternative Theorie besagt, dass sich die Bezeichnung Räuschling aus dem Wort „Russling“ entwickelt habe, was sich auf das sehr dunkle – „berusste“ –Holz der Rebsorte bezieht.

Ursprünglich stammt der Räuschling aus Landau in Rheinland-Pfalz und erstmals schriftlich vermerkt wurde er im Kräuterbuch des Botanikers Hieronymus Bock (1546) unter dem Namen Drutsch(t). In der Schweiz fand die Sorte 1759 in Schaffhausen Erwähnung – in einem Atemzug mit dem Synonym „Zürirebe“, was den langen Bezug zu Zürich verdeutlicht. José Vouillamoz, bekannt als „Sherlock Holmes der Rebsorten“, erläutert die genetische Abstammung: „Laut Genanalysen ist der Räuschling eine spontane Kreuzung von Gouais Blanc (Heunisch) und Savagnin (Traminer). Diese beiden Sorten waren im Mittelalter in Europa sehr verbreitet. Weine von Räuschling sind generell leicht, besitzen eine schöne Säure und delikate Zitrusnoten, zweifellos das Erbe der Elternsorten.“ Räuschling habe es einst auch in Württemberg, im Elsass sowie im Norden der Schweiz gegeben, doch aus seinem deutschen Herkunftsgebiet sei er heute komplett verschwunden, bestätigt der Rebsortenforscher. Weltweit gibt es derzeit nur 25 Hektar Räuschling und alle sind in der Deutschschweiz.

Rettung am See

Zentrum des Räuschling-Anbaus ist der Kanton Zürich, sein Hotspot der Zürichsee. Vor etwa 150 Jahren dominierten hier in den Weingärten Räuschling und Elbling, die aber beide im Lauf der Zeit von Sorten wie Müller-Thurgau – weniger Arbeitsaufwand und mildere, bekömmlichere Weine – verdrängt. In den 1960ern drohte dem Räuschling schließlich der völlige Untergang. Nur wenige Winzer hielten ihm die Treue, allen voran die bereits erwähnte Familie Schwarzenbach, die damit wesentlich zur Rettung des Räuschling beitrug. Heute ist er sogar die Hauptrebsorte des Weinguts am rechten Ufer des Zürichsees. Der junge Alain Schwarzenbach, der den Betrieb seit einigen Jahren führt, erzählt: „Mein Großvater hat immer persönlich sehr gern Räuschling getrunken, deshalb hielt er an ihm fest, und mein Vater entwickelte sich zu einem Experten für die Sorte. Das Mikroklima bei uns am Zürichsee kommt dem Räuschling einfach sehr zugute. So können wir aus ihm auch einen durchwegs strukturreichen Wein keltern.“ Paradewein der Schwarzenbachs ist der Räuschling „Seehalden“, ein ausdrucksstarker Lagenwein mit straffer Struktur und erstaunlichem Reifepotenzial.

Comeback einer Spezialität

Hochwertige Weine von Räuschling sind keine Selbstverständlichkeit. Die Sorte neigt zu sehr hohen Erträgen und lange Zeit wurden aus ihr fast ausschließlich dünne, ausdruckslose Weine gekeltert. Das primäre Merkmal des „Suurgörpsel“, wie man ihn in der Schweiz schimpfte, war immer die enorme Säure. Diederik Michel vom Weingut Diederik erklärt: „Früher freute man sich als Winzer über die riesigen Mengen, die da im Weingarten hingen und hoffte einfach, dass die Trauben schon irgendwie reif werden würden. Aber am Ende war das Ergebnis immer sauer. Heute schneiden wir etwa die Hälfte der Trauben vorzeitig herunter, um den Ertrag zu beschränken.“ Der Winzer aus Küsnacht sieht den Räuschling heute nicht nur als regionale Spezialität, sondern auch als wichtiges Aushängeschild für den gesamten Zürichsee.

Rico Lüthi, der zwei Hektar in besten Lagen am See bewirtschaftet, schätzt den früher verpönten Räuschling ebenfalls, betont aber: „Im Rebberg ist er eine Herausforderung. Der Räuschling braucht viel Aufmerksamkeit und Pflege, weil er so wüchsig ist. Seine Trauben sind groß, kompakt und in einem feuchten Herbst platzen die Beeren leicht auf. Dann droht sofort Fäulnis und es heißt aussortieren.“
Lüthi startete mit den Weingütern Schwarzenbach und Rütihof vor 15 Jahren das gemeinsame Projekt „R3“ – die Herstellung eines lagerfähigen Spitzen-Räuschlings als Hommage an die typische Sorte vom Zürichsee. Für die Supercuvée R3 liefern die drei Weingüter beste Räuschlingtrauben von drei verschiedenen Lagen mit unterschiedlichen Böden, vom Sandstein-Verwitterungsboden über den Lehmboden bis zum kieseligen Kalk-Mischboden auf Nagelfluh. Auf diese Weise will das Trio das Terroir Zürichsee perfekt ins Glas bringen. Tatsächlich präsentiert sich der R3 Jahr für Jahr als komplexer Weißwein mit Mineralität, Frische, Eleganz und Fülle. „Dieser Wein ist ein wichtiges Projekt, das nicht nur auf die Sorte, sondern auf die ganze Region aufmerksam macht“, sagt Lüthi.

Nur wenige Kilometer entfernt in Uetikon am See arbeitet Erich Meier auf knapp sieben Hektar Weinbergen. Sein charakterstarker und präziser Räuschling gilt als Benchmark für die Sorte. Immerhin zwölf Prozent von Meiers Produktion gehen auf das Konto der Rarität. „Für mich ist der Räuschling unsere lokale Traubensorte, auf die wir sehr stolz sind. Sie repräsentiert den Zürichsee und ist eine Spezialität, die nicht wegzudenken ist“, bekräftigt auch Meier. Ertragsregulierung sei ein wichtiges Thema, die Traubenzone entblättere er aber wenig, um Säure und Struktur zu erhalten. Die Harmonie in den Beeren müsse stimmen, weshalb er den Erntezeitpunkt immer durch „Essversuche“ ermittelt. Meier betont: „Im Keller setze ich auf Spontanvergärung und den Ausbau in Barriques in vierter Füllung – oder auch im Ton-Ei. Zum Teil findet die malolaktische Gärung statt, damit wir keine Entsäuerung vornehmen müssen.“

Am rauschenden Rheinfall

Stolz auf den Räuschling ist man auch eine Autostunde nördlich vom Zürichsee, in Uhwiesen am Rheinfall. Hier stürzen gewaltige Wassermassen auf einer Breite von 150 Metern über die Felsen hinunter, was den nur 23 Meter hohen Rheinfall zu einem der wasserreichsten Wasserfälle Europas macht. Direkt nebenan, auf der Südseite des Cholfirsthanges, liegt das biodynamische Weingut Besson-Strasser, dessen sechs Hektar Weinberge bereits seit 2004 Demeter-zertifiziert sind. Nadine Besson-Strasser betrachtet den Räuschling klar als ihre wichtigste Weißweinsorte: „Von Räuschling haben wir einen ganzen Hektar. Es handelt sich hier zum Glück um eine autochthone Sorte mit herrlicher Säure und genau die wollen wir auch betonen.“ Räuschling sei außerdem eine perfekte Schaumwein-Sorte – Besson-Strassers Räuschling Brut Nature beweist es. Die Winzerin bekräftigt: „Der Räuschling ist für unsere nach Méthode Traditionnelle hergestellten Sekte besonders gut geeignet, weil er nach einer langen Reifezeit auf der Hefe noch diese wunderbare Säure aufweist.“

Das alte Hefemonster

Zurück nach Meilen am Zürichsee und zur außergewöhnlichen Reifefähigkeit von Räuschling. Bei diesem Thema kommt man am Keller des Weinguts Schwarzenbach, der mit alten Jahrgängen hervorragend bestückt ist, nicht vorbei. Bei einer großen Räuschling-Vertikale 2008 wurde sogar ein Wein vom Jahrgang 1895 geöffnet. Der Mikrobiologe Jürg Gafner von der Forschungsanstalt Agroscope in Wädenswil analysierte daraufhin das Hefedepot des 113 Jahre alten Räuschlings und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass es Hefestämme enthielt, die immer noch lebendig waren. Er konnte sie vermehren und gab dieser „Mumienhefe“ den Namen 1895C. Sie besitzt mittlerweile einen legendären Ruf – manche nennen sie „Dornröschenhefe“, andere sprechen schmunzelnd von „Monsterhefe“.
Alain Schwarzenbach erläutert: „Die Hefe 1895C kann nicht nur Glukose, sondern auch reine Fruktose vergären, ist daher resistent gegen Gärstockungen und durch diese Eigenschaft in der Lage, noch das letzte Gramm Restzucker zu verarbeiten. Demnach ist sie ideal für Weine, bei denen null Restsüße verbleiben soll. Zudem kann die 1895C das Traubenaroma sehr gut hervorheben und bildet kein Eigenaroma. Sie bringt ehrliche, geradlinige Weine hervor und neigt auch kaum zur Böckserbildung.“ Die gärstarke Hefe – ein Symbol für die Unverwüstlichkeit von Räuschling – kommt mittlerweile nicht nur bei vielen Schweizer Betrieben zum Einsatz, sondern hat es sogar bis nach Arizona geschafft. Tatsächlich war es der Rebgenetiker José Vouillamoz, der die Hefe 1895C an Maynard James Keenan, Frontman der Progressive-Metal-Bands Tool und A Perfect Circle, vermittelte. Er betreibt im Wüstenklima von Arizona seit 2004 erfolgreich das Weingut Caduceus Cellars.

Zukunft gesichert

Entwickelt sich Räuschling demnach zu einer Trendsorte in der Schweiz? Vouillamoz schüttelt den Kopf: „Das würde ich nicht sagen. Die Rebfläche bleibt seit Jahren relativ stabil bei etwa 25 Hektar. Von einem Trend zu sprechen, wäre also ziemlich übertrieben.“ Mit seiner von Haus aus kräftigen Säure dürfte Räuschling aber zumindest auch in den kommenden Jahren erfrischende Weine mit viel Trinkfluss liefern und sich vorerst auch in Zeiten der Klimakrise behaupten können. Alain Schwarzenbach meint dazu: „Ja, klimatechnisch passt es, da die Trauben selbst grundsätzlich eine gute Resistenz gegen Mehltau aufweisen und der Räuschling auch bei Schäden durch Spätfrost noch gute Erträge bringen kann.” Aber er sei doch recht standortaffin, was bedeute, dass nicht unendlich viele Lagen für diese Sorte, die eher schwere, tonhaltigere Böden bevorzuge, geeignet seien, so Schwarzenbach. Er kann sich dennoch vorstellen, dass vor allem in der Region Zürichsee künftig mehr auf den Räuschling gesetzt wird.
Kollege Erich Meier sieht es ähnlich: „Der Räuschling kann sich sicher auch in Zukunft behaupten und wird so bald nicht verschwinden. Aber zur Trendsorte wird er wohl nur, falls am teuren Zürichsee noch Land frei wird.“ Meier grinst. Dass an der wohlhabenden und stark verbauten „Goldküste“ des Zürichsees Flächen für den Weinbau frei werden, ist nämlich höchst unwahrscheinlich. Große Zuwächse für den Räuschling sind daher nicht absehbar.